Eine effiziente und Fachgrenzen überschreitende Zusammenarbeit ist das Fundament, um erfolgreich neue Ideen zu erforschen und innovativen Technologien und Verfahren den Weg zu ebnen. Dr. Anja Silge, Leiterin der Arbeitsgruppe Angewandte Biospektroskopie/Bioassays am Leibniz-IPHT, und Dr. Stefanie Deinhardt-Emmer, Fachärztin für Mikrobiologie und Virologie am Universitätsklinikum Jena, arbeiten im Rahmen gemeinsamer Forschungsprojekte daran, wie die Raman-Spektroskopie die moderne Diagnostik wirkungsvoll unterstützen kann. Wie sich medizinische Sichtweise und Expertise in biologischer Bildgebung perfekt ergänzen, welche Rolle Interdisziplinarität für sie spielt und wie dadurch Fortschritte auf dem Weg zu einer schnelleren Diagnostik erzielt werden können, erzählen sie im Interview.
 
Frau Dr. Deinhardt-Emmer und Frau Dr. Silge, denken Sie bitte an Ihr erstes Treffen zurück. Hatten Sie Vorurteile gegenüber der Disziplin des anderen, die Sie inzwischen revidieren konnten?
 
Anja Silge: Wir haben schnell gemerkt, dass die erste Hürde das gegenseitige Verständnis ist. Beide Seiten müssen bereit sein, die zugrunde liegenden Konzepte und Perspektiven der jeweiligen Disziplin zu verstehen. Zum Beispiel bedeutet das Wort Empfindlichkeit im medizinischen Kontext die Fähigkeit von diagnostischen Tests, eine bestimmte Krankheit zu erkennen. Als Spektroskopikerin bzw. Spektroskopiker bedeutet Empfindlichkeit, wie gut man die geringe Menge an Raman-Streulicht von einem bestimmten analytischen Ziel detektieren und auswerten kann.



In einem gemeinsamen Forschungsprojekt zwischen Medizinerinnen und Medizinern sowie Spektroskopikerinnen und Spektroskopikern soll zum Beispiel eine hochempfindliche Raman-Spektroskopietechnik für die Früherkennung von Krankheiten entwickelt werden. Ohne jedoch die spezifischen Anforderungen und Grenzen jeder Disziplin zu verstehen, könnten Spektroskopikerinnen und Spektroskopiker entscheidende Aspekte wie Probenvorbereitungstechniken oder biologische Variabilität übersehen, die die Genauigkeit der Krankheitsdiagnose beeinträchtigen könnten. Durch die Zusammenarbeit und die Erstellung einer gemeinsamen Veröffentlichung haben wir uns intensiv mit diesen Themen auseinandergesetzt und neue Synergien geschaffen, die wir für künftige Projekte nutzen wollen.
 
Können Sie das Thema Ihres gemeinsamen Projekts erläutern?
 
Anja Silge: Mit der Raman-Spektroskopie lassen sich intakte Immunzellen ohne den Einsatz von Markern zerstörungsfrei charakterisieren. Unsere Hypothese ist, dass der spektrale Fingerabdruck in Zukunft in der Diagnostik eingesetzt werden könnte. Aufgrund der Komplexität der Raman-Spektroskopie sowie der Eigenschaften biologischer Proben erfordert die Etablierung von Innovationen in der intelligenten Diagnostik eine intensive Unterstützung durch Disziplinen wie Mikrobiologie, Immunologie, Spektroskopie und Datenwissenschaft.
 
Warum ist Interdisziplinarität für Ihr gemeinsames Projekt wichtig?
 
Stefanie Deinhardt-Emmer: Vor allem der direkte Austausch mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus der Physik führt zum Verständnis von Methoden und Technologie. Potentielle Anwendungen werden eher auf der klinischen Seite definiert, während unsere Kolleginnen und Kollegen uns die Möglichkeiten der Technologie zeigen. Anschließend finden wir gemeinsam Lösungen für eine bessere Patientenversorgung.



Was kann die Raman-Spektroskopie im Vergleich zu herkömmlichen diagnostischen Verfahren leisten und wie werden Hochdurchsatzverfahren ermöglicht?
 
Anja Silge: Die Raman-Spektroskopie ermöglicht die nicht-invasive und schnelle Erfassung des molekularen Fingerabdrucks der Zelle. Der Nachweis von Veränderungen in der Zellchemie von Immunzellen, die durch eine Infektion verursacht werden, ist eines der wichtigsten diagnostischen Werkzeuge. Raman-spektroskopische Messungen mit hohem Durchsatz werden durch eine spezielle Probenvorbereitung und ein spezifisches Probenmanagement sowie eine automatische Bilderkennung der Zielpartikel und spezielle Beleuchtungstechniken ermöglicht.
 
Was sind die bisher wichtigsten Erkenntnisse und wie haben Sie von einer interdisziplinären Zusammenarbeit profitiert?



Anja Silge: Patientinnen und Patienten mit systemischen Infektionen könnten von einer phänotypischen Charakterisierung der angeborenen Immunzellen profitieren. Die Hochdurchsatz-Screening-Raman-Spektroskopie (HTS-RS) stellt eine innovative Strategie zum direkten und zerstörungsfreien Nachweis von Veränderungen in der Zusammensetzung und im Phänotyp der weißen Blutkörperchen dar. 



Stefanie Deinhardt-Emmer: Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass die Stimulation neutrophiler Granulozyten mit SARS-CoV-2 zur Expression von IP-10 und IL-6 führt, relevanten Markern einer systemischen Infektion.
 
Anja Silge: Die HTS-Raman-Spektroskopie zeigte eine phänotypische Veränderung von neutrophilen Granulozyten als Reaktion auf Prä-Stimuli und SARS-CoV-2-Infektion. Die Raman-Spektroskopie ist eine leistungsfähige Technik zur Beurteilung des Phänotyps von Immunzellen, da sie stark mit proinflammatorischen Zytokinen korreliert. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ermöglichte es, die Experimente in einer sinnvollen Reihenfolge mit geeigneten Positivkontrollen und Referenzmessungen anzuordnen, um die Raman-spektroskopische Phänotypisierung weiterzuentwickeln.



Die Kommunikation in der interdisziplinären Forschung und in interdisziplinären Teams kann herausfordernd sein. Können Sie von Ihren Erfahrungen berichten?
 
Stefanie Deinhardt-Emmer: Eine gemeinsame Sprache zu finden, braucht Zeit. Dafür ist es besonders wichtig, informelle Treffen zu organisieren und die Themen auf einer Arbeitsebene zu diskutieren. Wir laden Kolleginnen und Kollegen in unser Labor ein und zeigen ihnen, wie und woran wir arbeiten. Genauso gehe ich gern zu Kolleginnen und Kollegen und lasse mir Geräte erklären. Auf diese Weise wächst das Verständnis, was benötigt wird, und erfährt, welche Probleme auftreten könnten.



Können Sie kurz darauf eingehen, was in der interdisziplinären Kommunikation schief gehen kann? Vielleicht gibt es ein Beispiel, bei dem Sie gelernt haben, was vermieden werden sollte, um den Diskurs konstruktiv zu halten?
 
Anja Silge: Beide Parteien müssen ihre Erwartungen richtig zum Ausdruck bringen. Es reicht nicht aus, eine biologische Probe am Laboreingang abzugeben und dann ein Spektrum zu erhalten. Wie Stefanie sagte, ist es wichtig, dass Ärztinnen und Ärzte unsere Labore besuchen und sehen, wie die Zellen unter dem Raman-Mikroskop untersucht werden, welche Puffer oder Fixierungen verwendet werden und wie lange eine Messung dauert. Im Gegenzug bringen Ärztinnen und Ärzte Technologinnen und Technologen bei, wie man mit biologischen Materialien umgeht, welche Eigenschaften und Strukturen besonders wichtig sind und welche Zeiträume eingehalten werden müssen. Außerdem beschreiben Spektroskopikerinnen und Spektroskopiker, welche Teile des Spektrums vom Gerät und welche von der Probe stammen und welche erwarteten Informationen sich im Spektrum widerspiegeln und welche nicht. So bleibt der Diskurs konstruktiv.



Hat Sie Ihre Ausbildung oder Ihr Werdegang besonders auf interdisziplinäre Zusammenarbeit vorbereitet?
 
Stefanie Deinhardt-Emmer: Ich bin Ärztin und wurde für die Arbeit mit Patientinnen und Patienten ausgebildet. Vielleicht hilft mir das, mit anderen Menschen zu interagieren und herauszufinden, was ihre Interessen und Probleme sind.



Abgesehen von Ihrer Begeisterung für das Thema: Setzen Sie Ihre wissenschaftliche Karriere durch die Mitarbeit an einem interdisziplinären Projekt aufs Spiel? Was sind relevante Aspekte?
 
Anja Silge: Ich habe nicht das Gefühl, dass ich meine wissenschaftliche Karriere durch die Arbeit an einem interdisziplinären Projekt aufs Spiel setze. Die Globalisierung, der Klimawandel und die damit verbundene Zunahme von Infektionskrankheiten und Antibiotikaresistenzen stellen komplexe Herausforderungen dar. Diese können nur durch einen interdisziplinären Ansatz gelöst werden und ich freue mich darauf, Erfahrungen bei der Entwicklung wertvoller Lösungen für reale Probleme zu sammeln. Das ist die Richtung, in die ich meine Karriere lenken möchte.



Ist das Wissenschaftssystem in Deutschland für interdisziplinäre Forschung gerüstet?
 
Stefanie Deinhardt-Emmer: Ich habe die Interdisziplinarität in anderen Ländern besser erlebt. In Deutschland kocht jeder gern sein eigenes Süppchen. Die Kolleginnen und Kollegen haben Angst, Daten oder Einfluss zu verlieren. Vielleicht sollten spezielle Belohnungssysteme für interdisziplinäres Arbeiten eingeführt werden. Und vielleicht sollte es auch spezielle Antragsformulare bei der DFG geben.



Können Sie (weitere) Beispiele nennen, was wir von anderen Ländern lernen können?
 
Stefanie Deinhardt-Emmer: Universitäten in den USA bieten zum Beispiel interdisziplinäre Kurse und Programme an, die Studierende dazu ermutigen, Themen zu erforschen, die über die traditionellen Grenzen der Disziplinen hinausgehen. An diesen Programmen sind häufig Dozentinnen und Dozenten aus verschiedenen Fachbereichen beteiligt.
 
In Deutschland ist das akademische System im Vergleich zu den Vereinigten Staaten traditionell stärker strukturiert und fachspezifisch ausgerichtet. Interdisziplinäre Forschung erfordert oft die Überwindung starrer Fachbereichsgrenzen.
 
Wie kann die Kommunikation und Netzwerkbildung zwischen Postdocs (durch Leibniz) gefördert werden?
 
Stefanie Deinhardt-Emmer: Organisieren Sie interdisziplinäre Workshops oder Seminare, die Postdocs aus verschiedenen Forschungsbereichen zusammenbringen. Ermutigen Sie sie, ihre Arbeit vorzustellen und mögliche Kooperationen zu erkunden.



Wofür möchten Sie sich, abgesehen von der Interdisziplinarität, einsetzen?
 
Anja Silge: Ein unterstützendes Umfeld für junge Eltern in der Wissenschaft.
 
Stefanie Deinhardt-Emmer: Mir geht es darum, die Rahmenbedingungen für Medizinerinnen und Mediziner in der Forschung zu verbessern. Zu diesem Zweck bin ich Mitbegründerin von ClinSciNet, einem Vernetzungsprogramm für klinisch tätige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland. Hier gibt es ein großes Potenzial, um Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler für die translationale Medizin zu gewinnen und damit auch die Interdisziplinarität zu fördern.
 
Wer kann an diesem Programm teilnehmen und wie fördern Sie die Vernetzung?
 
Stefanie Deinhardt-Emmer: Klinische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben in der Regel einen medizinischen Abschluss, wie den Doktor der Medizin (MD) oder eine gleichwertige Qualifikation. Sie sind zugelassene Ärztinnen und Ärzte und haben oft eine Facharztausbildung in einem medizinischen Fachgebiet absolviert. Klinische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teilen ihre Zeit zwischen Patientenversorgung und Forschungstätigkeit auf. Sie arbeiten im klinischen Umfeld, betreuen Patientinnen und Patienten, diagnostizieren Krankheiten und führen medizinische Behandlungen durch. Gleichzeitig sind sie in der Labor- oder klinischen Forschung tätig und tragen zu wissenschaftlichen Fortschritten bei. Genau an dieser Stelle müssen Verbindungen zur Grundlagenforschung aufgebaut werden, um frühzeitig gemeinsame Netzwerke zu etablieren.



Wir bedanken uns herzlich bei Dr. Stefanie Deinhardt-Emmer und Dr. Anja Silge für das Interview zum Thema Interdisziplinarität.
 
Zum vollständigen und Original-Interview des Leibniz PostDoc Netzwerks.
 
Im Bild:

Dr. Stefanie Deinhardt-Emmer vom Universitätsklinikum Jena und Dr. Anja Silge vom Leibniz-IPHT